24. Januar 2022

Leitartikel des DPolG Bundesvorsitzenden

Die Krise ist längst noch nicht vorbei

"Kaum ein Ereignis fordert unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt so heraus, wie es die nun schon seit rund zwei Jahren andauernde Pandemie tut." Das schreibt DPolG Bundesvorsitzender Rainer Wendt im aktuellen Leitartikel des POLIZEISPIEGEL. "Nahezu tagtäglich formieren sich Demonstrationen gegen die politischen Entscheidungen zur Bekämpfung des Infektionsrisikos, oft friedlich und ohne besondere Vorkommnisse, aber viel zu oft entladen sich offene Staatsverachtung und Gewaltbereitschaft einzelner Personen oder radikaler Gruppierungen.

Aushalten müssen das unsere Einsatzkräfte, die dabei zusätzlich selbst hohen Infektionsrisiken ausgesetzt sind.

Viel wird über die Zusammensetzung der Versammlungen geredet und geschrieben, aber richtig weiter helfen uns diese Diagnosen nicht. Im Einsatzgeschehen muss unter rechtsstaatlichen Aspekten entschieden und gehandelt werden, da bringen auch noch so kluge Theorien aus der Politikwissenschaft wenig. Deshalb sind sowohl unsere Führungskräfte, als auch die ausführenden Einheiten in kaum gekannter Weise gefordert, zumal sie zu jeder Sekunde unter akribischer öffentlicher Beobachtung stehen. Und sie machen es richtig gut, die Polizei in Deutschland zeigt, wie Rechtsstaat auch unter schwierigen Bedingungen durchgesetzt wird.

Aber sie haben auch Anspruch auf Rückhalt und Unterstützung. Dazu zählt nicht nur politischer Beistand bei ungerechtfertigter Kritik, hinzu kommen die Wahrnehmung von Fürsorgepflicht, etwa bei der Anerkennung von Dienstunfällen durch Infektionen und nicht zuletzt auch Anerkennung ihrer Arbeit durch anständige Bezahlung.

Die Übernahme der Ergebnisse der Tarifergebnisse auf die Besoldung der Beamtinnen und Beamten ist grundsätzlich ein gutes Signal. Dass die Versorgungsempfänger eine Nullrunde erdulden und auf die Corona-Zulage verzichten müssen, ist ein beschämendes Zeichen. Und es darf auch nicht vergessen werden, wie sich die Arbeitgeberseite in den Tarifverhandlungen zuvor aufgeführt hat. Was dort von Politikern (!) an Arbeitsverweigerung betrieben wurde, war lächerlich, arrogant und unverschämt. Alle diese „Verhandler“ gehören ausgetauscht.

Wenn Corona-Demonstrationen bevorstehen, sind selbst ernannte „Polizeiexperten“ nicht weit. Manche fordern „hartes Durchgreifen“, wollen am liebsten sofort mit Wasserwerfern drauflos und führen sich auf, als gäbe es weder Recht noch Gesetz, sondern eben nur politisches Interesse, das zum Einschreiten reicht. Dass diese Besserwisser ausgerechnet aus linken und linksradikalen Parteien kommen, die die Polizei sonst immer zur Zurückhaltung und Duldung von Rechtsbrüchen ermahnen, wenn es um „ihre Klientel“ geht, die mal wieder vermummt und bewaffnet durch die Straßen zieht, ist nur eine der seltsamen Wandlungen dieser Tage. Doppelmoral ist eben fester Bestandteil mancher Politikzirkel.

Besonnene Kräfte in Politik und Wissenschaft erkennen den gesellschaftspolitischen Sprengstoff dieser Lage. Nicht Ausgrenzung, Stigmatisierung oder Spaltung sind jetzt gefragt, sondern die kluge Bereitschaft zum Dialog, Überzeugungskraft und ein stabiles Wertegerüst, statt politischer Beliebigkeit und rhetorischer Aggressivität. Auch unseren Medien kommt in dieser Situation eine herausragende Verantwortung zu, Aufklärung und seriöse Berichterstattung sind wichtiger denn je. Der belehrende Tonfall mancher Akteure nervt viele Menschen und erschwert die Lage eher.

Bundeskanzler Scholz bestreitet, dass die Gesellschaft gespalten sei, aus seiner Wahrnehmung mag das so sein. Er steht auch eher selten in der ersten Reihe in Rostock, Stuttgart, Berlin oder anderswo und bekommt kaum etwas mit von dem Hass, der Verachtung und der Gewalt, die unseren Kolleginnen und Kollegen entgegenschlägt. Das ist ihm nicht vorzuwerfen, niemand erwartet, dass er persönlich dorthin geht. Aber ein erkennbares Interesse für diejenigen, die im wahrsten Sinne des Wortes für den Staat den Kopf hinhalten, darf man verlangen.

Allein mit Polizei und Justiz lässt sich eine Gesellschaft nicht zusammenhalten. Die Geschwindigkeit, mit der sich ihre Zentrifugalkräfte steigert und sie auseinanderdriftet, ist nur schwer messbar, aber in den aggressiven Diskussionen zerstrittener Gruppen und Menschen spüren wir täglich ihre zerstörerische Wirkung. Das muss eine Sternstunde politisch kluger Akteure werden, die mit klugen und nachvollziehbaren Entscheidungen für Akzeptanz sorgen und die Menschen von deren Richtigkeit überzeugen muss und mitten in der Krise jetzt nicht neue Streitfelder eröffnen darf, etwa in der Zuwanderungs- oder Klimapolitik.

Manche radikalen Kräfte warten nämlich nur darauf."